Erst die Lohntüte, dann die Gesundheit

Die Angst, mit dem verfügbaren Geld immer schlechter über die Runden zu kommen, dürfte höher wiegen als die Angst, beim Leistungskatalog Abstriche zu machen, kommentiert Chefredaktorin Ina Bullwinkel die anstehende Abstimmung zur Prämien-Entlastungs-Initiative.

Prämien Abstimmung
(Quelle: Adobe Stock/Collage: Bajour)

Es ist sehr schwer nachzuvollziehen, wie das Schweizer Gesundheitssystem funktioniert. Und damit meine ich nicht das Konstrukt aus Versicherungen, Franchisen, Spitälern, Ärzt*innen usw. (obwohl auch das schwer nachzuvollziehen ist). Ich meine, dass es schwer ist zu verstehen, wie das Gesundheitssystem in der Schweiz auf der einen Seite so gut funktioniert – es hat einen der weltweit höchsten Standards in der Versorgung – und auf der anderen Seite so schlecht funktioniert – weil die Prämien für viele kaum mehr zu bezahlen sind. Vor allem für Familien und Rentner*innen wird das immer schwieriger.

Es ist kaum vermittelbar, wenn hinter der Landesgrenze bestimmte Medikamente nur die Hälfte kosten. Wenn Operationen mehr als 50 Prozent teurer sind als im nahen Ausland. Das lässt sich nicht allein durch das Lohngefälle erklären. Kostentreibend sind insbesondere die Verträge und Regularien zugunsten von Pharma, Apotheken und von Ärztinnen und Ärzten. Warum wird nicht schon viel länger und viel häufiger auf die günstigeren Generika gesetzt? Weil es von der Lobby verhindert wurde. Es ist politisch gewollt.

«Die hochgehaltene individuelle Verantwortung wird spätestens dann infrage gestellt, sobald die eigene Gesundheit so teuer geworden ist, dass man sie vernachlässigt.»

Die Menschen zahlen viel Geld für ihre Prämie, für die komplette Versorgung müssen sie aber via Franchise noch etwas drauflegen. Eine Pflegefachkraft zahlt dabei genauso viel Krankenkassenprämie wie ein*e obere*r Roche-Manager*in. Schwer, sich dabei nicht ungerecht behandelt zu fühlen. Eine einkommensabhängige Prämie, wie in vielen anderen Ländern üblich, wäre mehr als einen Gedanken wert. Die hochgehaltene individuelle Verantwortung wird spätestens dann infrage gestellt, sobald die eigene Gesundheit so teuer geworden ist, dass man sie vernachlässigt und weniger zum Arzt oder zur Ärztin geht.

Den Prämienzahler*innen fehlt die Lobby, die Spitäler und Pharmabranche selbstverständlich haben. Sie haben keinen Einfluss auf Medikamentenpreise, die Anzahl der Spitäler oder die Verträge zwischen Leistungserbringer*innen und Versicherungen. Sie können vor allem hoffen, dass sie gesund bleiben. Politisch bewegt sich kaum etwas, es sei denn, es findet sich eine Mehrheit bei einer disruptiven Abstimmung. Genau danach sieht es bei der Prämien-Entlastungs-Initiative momentan aus.

«Haben die Menschen Grund, darauf zu vertrauen, dass die Politik das Beste für sie rausholt? Vermutlich nicht.»

Hört man Gesundheitsökonomen wie Stefan Felder zu, heisst es: There is no free lunch, Leistung kostet. Und: Wenn die Prämien sinken sollen, dann muss die Versorgung ganz einfach etwas schlechter werden. Preisüberwacher Stefan Meierhans sagt, die Prämien könnten 20 Prozent tiefer sein, wenn man nur die vorgeschlagenen Sparmassnahmen, die schon lange existieren, umsetzen würde. Es passiert aber zu wenig.

Nur: Wenn man sich darauf einigen kann, dass es an gewissen Stellen ineffizient läuft, Spitäler zusammengelegt, überflüssige Leistungen oder Operationen gestrichen werden könnten, würde das «frei gewordene« Geld dann wirklich dafür eingesetzt, die Prämien zu senken? Haben die Menschen Grund, darauf zu vertrauen, dass die Politik das Beste für sie rausholt? Wenn man sich anschaut, wie die Prämien im Vergleich zu den Löhnen in den vergangenen Jahren gestiegen sind: vermutlich nicht. 

«Wenn die breite Stimmbevölkerung am 9. Juni auf Umverteilung setzt, darf das niemanden überraschen.»

Die Angst, mit dem verfügbaren Geld immer schlechter über die Runden zu kommen, dürfte höher wiegen als die Angst, beim Leistungskatalog Abstriche zu machen. Auch, wenn daran wohl niemand Freude hätte. 

Basel-Stadt, der reiche Pharma-Kanton, schreibt regelmässig Steuerüberschüsse von mehreren hundert Millionen Franken. Trotzdem werden hier die höchsten Prämien der Schweiz erhoben. Wenn die breite Stimmbevölkerung am 9. Juni auf Umverteilung setzt, darf das niemanden überraschen.

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