«Wenn die Orchester solidarisch wären, gäbe es keine Spaltung»

Pius Knüsel, ehemaliger Direktor der Stiftung Pro Helvetia und Mitautor des Buchs «Der Kulturinfarkt», sieht in der Basler Musikvielfaltsinitiative eine grosse Chance sowohl für die freischaffenden Musiker*innen als auch für die Institutionen der freien Szene. Er hält die offene Formulierung der Initiative auch für eine Stärke.

Inland - Jahresmedienkonferenz Pro Helvetia
Pius Knüsel vertraut darauf, dass die Politik die Musikvielfaltsinitiative bei einer Annahme fair umsetzen würde. (Bild: EQ Images)

Pius Knüsel, 2012 haben Sie den Kulturinfarkt prophezeit, ist er mittlerweile eingetroffen?

Er ist vorübergehend eingetroffen, aber nicht aus kulturpolitischen, sondern aus gesundheitlichen Gründen – wegen Covid-19. Die Pandemie hat gezeigt, dass wir auch mit einem deutlich geringeren kulturellen Angebot überleben. 

Den grossen Institutionen ging es in dieser Zeit übrigens besser als den kleinen, weil alle Hilfeleistungen auf die grossen ausgelegt waren. Das ist ein Missstand.

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Zur Person

Pius Knüsel war von 2002 bis 2012 Direktor der Kulturstiftung Pro Helvetia, danach Direktor der Volkshochschule Zürich. Für eine monatelange Kontroverse sorgte seine Mitautorenschaft an dem Buch «Der Kulturinfarkt. Von Allem zuviel und immer das Gleiche» (2012), das die Überinstitutionalisierung der Kultur kritisierte. Derzeit ist er Geschäftsführer des Festivals Alpentöne.

Jetzt, da die Pandemie als überstanden gilt, droht der Infarkt also nicht mehr?

Das würde ich so nicht sagen. Die Prophezeiung des Kulturinfarkts war damals natürlich eine Provokation. Doch die Anzeichen dafür, dass er eintrifft, sind mittlerweile virulenter geworden; das Angebot wächst weiterhin, das Publikum weiss nicht mehr, wo ihm der Kopf steht. Die Debatte über das Buch hat dazu geführt, dass man über das Thema der Überinstitutionalisierung sprechen darf. Kultur bewegt sich nicht mehr jenseits des Rechtfertigungs-Diskurses. Man darf mittlerweile fragen, ob es so viele Angebote braucht. Auch wenn es immer noch herausfordernd ist, ein «Nein» auszusprechen.

Sie sprechen sich für die Musikvielfaltsinitiative aus. Befördert diese nicht genau das, was sie verhindern wollen – mehr Quantität statt Qualität?

Ich denke nicht. Die Idee ist nicht, dass zehnmal mehr Künstler*innen Geld bekommen sondern, dass die guten Künstler*innen zehnmal mehr Geld bekommen. Also soviel, wie seriöse kreative Arbeit wert ist. Die Regierung und das Parlament werden es bei einer Annahme in der Hand haben, vernünftige Verteilmechanismen gemeinsam mit der Szene zu entwickeln.

Die Initiative wird innerhalb der Musikszene sehr unterschiedlich wahrgenommen. Manche sprechen von einer Spaltung. Ist es der richtige Weg, die beiden Lager so gegeneinander aufzubringen?

Wenn die Orchester solidarisch wären, gäbe es keine Spaltung. Die Initiative ist ja erst mal eine Anregung. Ich halte es für richtig, dass der Grundsatz klar formuliert, die Umsetzung aber offen ist. Ich finde es ein Gebot der Solidarität, dass alle in der Musikszene sagen, wir sind für die Initiative, damit die Regierung etwas hat, mit dem sie dann arbeiten muss. Wenn es um Subventionserhöhungen für die Kultureinrichtungen ging, hiess es auch immer, die Freien sollten doch bitte solidarisch sein.

Die Gegner*innen kritisieren genau diesen Punkt, nämlich, dass die Initiative offen formuliert wurde und die Folgen somit nicht abschätzbar sind. War diese Entscheidung ein Eigentor?

Es ist sowohl eine Stärke als auch eine Schwäche der Initiative, dass sie nicht genau sagt, wie die Umsetzung aussehen soll. Ich verstehe sie so, dass es in der freien Szene ähnliche Strukturen geben soll wie in der Klassik, also dass Veranstalter genügend Gelder bekommen, damit sie den Musiker*innen, die bei ihnen auftreten, Gagen bezahlen können, die nicht nur den Auftritt, sondern auch die Probenarbeit bezahlen.

Musikvielfalt-Podium
Podiumsdiskussion

Am 24. November stimmt Basel über die Musikvielfaltsinitiative ab. Die Initiative fordert, dass ein Drittel der kantonalen Musikförderung in Basel freien Musiker*innen zugutekommt. Könnte so die Situation der freien Musikschaffenden tatsächlich verbessert werden oder führt die Initiative zur Spaltung der Szene? Das diskutieren wir beim Podium mit Vertreter*innen aus Kultur und Medien. 


Wann: Mittwoch, 30. Oktober, 19 Uhr

Wo: Saal im KHaus

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Das würde bedeuten, dass die Institutionen der freien Szene nicht die Leidtragenden sind, sondern mehr Geld bekommen, das sie an die Kulturschaffenden weitergeben können?

Ja, ich finde den Weg über Strukturen extrem wichtig. Ich sehe die Veranstalter als Treuhänder der Szene. Nur so gibt es die Garantie, dass die Gelder produktiv eingesetzt werden und beispielsweise nicht ausschliesslich für den Lebensunterhalt verwendet werden, sondern für die Produktionen oder auch für Weiterbildung oder Professionalisierung.

Also müssten sich Institutionen der freien Szene wie das Gare du Nord gar nicht bedroht fühlen?

Ich sehe keine Bedrohung, die auf die Gare du Nord zukommt. Die Gare du Nord hat keine festangestellten Künstler, also gehört sie zur freien Szene. Ausserdem ist die Abgrenzung zwischen Institution und freier Szene noch zu verhandeln.

Wie kann verhindert werden, dass die Annahme der Initiative zu einer Spirale führt, in der immer mehr Förderung beantragt wird, weil Basel finanziell zunehmend attraktiver wird für Musikschaffende?

Es liegt an der Regierung, wie sie die Initiative umsetzen möchte. Eigentlich ist mit der Forderung nach einem Drittel für die freie Szene eine Wachstumsgrenze gesetzt. Die Regierung könnte dann sagen, die Initiative ist jetzt umgesetzt, das Geld gesprochen, mehr gibt es nicht. Nur wenn beispielsweise das Budget des Sinfonieorchesters erhöht würde, dann bräuchte es auch mehr Geld für die freie Szene.

Wenn für die Musikszene mehr Geld gesprochen würde, kämen dann nicht die anderen Genres auch und verlangen mehr Geld?

Ja natürlich, die Ansprüche aufs Kulturbudget würden steigen. Auch in anderen Städten würden mit Verweis auf Basel bestimmt ähnliche Vorlagen vors Volk kommen. Doch das zeigt nur, wieviel Ungerechtigkeit sich in der Förderung über die Jahrzehnte angehäuft hat.

Wieso gibt es bei der Förderung überhaupt so einen grossen Unterschied zwischen der freien Szene und den Institutionen?

Die Institutionen sind viel näher am politischen Apparat. Sie stehen im ständigen Austausch mit der Kulturverwaltung, reichen regelmässig Budgetpläne und Reportings ein und verhandeln über verbesserte Leistungsvereinbarungen. Ausserdem sind sie personell besser aufgestellt. Sie haben Leute, die sich hauptsächlich um die Förderung kümmern. Da sind sie im Vorteil, die fortlaufende Erhöhung der Budgets, beispielsweise über den Teuerungsausgleich, verläuft im Gegensatz zur freien Szene fast automatisch.

«Heute zahlt man nur die Gigs. Das ist lächerlich.»
Pius Knüsel

Wer entscheidet, was förderungswürdig ist?

Alle Fördereinrichtungen, staatliche wie private, nutzen ähnliche Kriterien, niemand muss das Rad neu erfinden. Mehr Mittel für die freie Szene bedeutet, dass faire Gagen bezahlt und die Kompositions- und Probenarbeit wie auch Weiterbildung mit entschädigt werden können. Das war bisher einfach nicht möglich. Heute zahlt man nur die Gigs. Das ist lächerlich. Das ist, wie wenn sich das Sinfonieorchester Basel über gewerkschaftlich festgelegte Auftrittshonorare und ein gelegentliches Stipendium finanzieren müsste. Dann nähme es pro Konzert vielleicht 70’000 ein, weit von dem, was es effektiv kostet – Kosten, die übrigens niemand bestreitet.

Sie haben nun dafür argumentiert, dass die freie Szene mehr Geld benötigt. Aber ist es auch gerechtfertigt, den Institutionen dieses Geld wegzunehmen?

Ich habe schon in einigen Institutionen gearbeitet, die finanzielle Einschnitte überlebt haben. Als Festivalveranstalter erlebe ich ein ständiges Auf und Ab. Das muss eine Institution verkraften können. Wieso müssen alle Unternehmen auf dem Markt so wirtschaften können, nur die Kulturinstitutionen nicht? Aber mir ist schon klar, dass das Sinfonieorchester eine grosse Einbusse über 20 Prozent nicht verkraften könnte. Dann würde es zum Kammerorchester. Doch bei Annahme der Initiative blieben noch Jahre, um ein Modell zu erarbeiten, um genau diesen Schnitt zu verhindern.

Ist es ein gutes oder schlechtes Zeichen für die Kulturlandschaft, dass so leidenschaftlich über die Musikvielfaltsinitiative gestritten wird?

Ich finde es eine Errungenschaft, dass wir kulturpolitische Debatten heute in einem gesitteten Rahmen führen können. 1980 haben wir so lange mit Pflastersteinen Schaufenster eingeschlagen, bis die Bürgerlichen Fördertöpfe für die Freie Szene errichteten. Die Pflastersteine von damals sind heute die Unterschriften. Das ist gut so. Aber natürlich wühlt die Initiative trotzdem auf. Es geht um eine Frage der Gerechtigkeit; solche Fragen sind immer emotional.

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Kommentare

Ulrike Mann
Ulrike Mann
Kontrabassistin Sinfonieorchester Basel

Der vermeintlich guttuende "Blick von aussen" zeugt eher von Unkenntnis der tatsächlichen Situation der Basler Musikförderung und schadet vor allem den freiberuflichen MusikerInnen. Ihnen würden bei Annahme der Initiative (die ja nicht explizit mehr Geld verlangt und Kürzungen in Kauf nimmt) bestehende Strukturen und Verdienstmöglichkeiten genommen.

Pius Knüsel disqualifiziert sich selbst mit Aussagen wie, das Sinfonieorchester habe nach einer solchen Kürzung zwar nicht mehr den notwendigen Personalbestand für ein Sinfonieorchester, aber es habe ja genügend Zeit, ein neues Modell zu erarbeiten. Pius Knüsel befeuert offensichtlich eine Art "Klassenkampf" in der Musik, indem er versucht, zu ideologisieren und MusikerInnen und Instituionen in Schubladen steckt, die längst nicht mehr existieren.

Victor Moser
27. Oktober 2024 um 05:59

Auf den Punkt

Manchmal tut der Blick „von außen“ gut. Vor allem, wenn eine privilegierte Gruppe von Besitzstandswahrern versucht, eine Initiative zu verhindern, die wichtige Zukunftsentscheidungen möglich machen kann. Wie sieht eine zeitgemäße Musikförderung aus? Was wollen wir uns als Gesellschaft leisten? Super Einordnung der Musikvielfalt Initiative. Danke Pius Knüsel.