«Familien stehen monatlich vor grossen Ausgaben, denen sie nicht ausweichen können»

Es ist wieder Herbstmesse – für Kinder ist der Besuch ein Highlight, Eltern stellt er mitunter vor eine finanzielle Hürde. Die Makroökonomin Sarah Lein erklärt, warum besonders Familien von sinkender Kaufkraft betroffen sind und weshalb die Krisen der letzten Jahre uns alle ärmer gemacht haben.

Sarah Lein
Laut Sarah Lein bewegt sich die Schweiz seit gut einem Jahr wieder im Bereich der Preisstabilität. (Bild: Universität Basel)

Sarah Lein, was bedeutet es, wenn die Kaufkraft sinkt?

Die Kaufkraft setzt sich aus mehreren Komponenten zusammen. Zum einen gibt es die Einnahmen eines Haushalts, zu denen vor allem Löhne, Sozialleistungen oder Renten gehören. Zum anderen gibt es obligatorische Ausgaben wie Steuern und Krankenkassenprämien. Wenn wir diese Ausgaben von den Einnahmen abziehen, wissen wir, wie viel Geld uns für den Kauf von Lebensmitteln, die Miete oder andere Ausgaben zur Verfügung steht. Die Kaufkraft zeigt schliesslich an, wie viele Waren und Dienstleistungen wir uns von dem verbleibenden Betrag leisten können. Eine sinkende Kaufkraft bedeutet also: Wir können uns von unseren Einnahmen nach Steuern und anderen obligatorischen Ausgaben weniger leisten. 

Es sind oft Familien von geringer Kaufkraft betroffen. Woran liegt das?

Familien stehen monatlich vor erheblichen Ausgaben, denen sie kaum ausweichen können. Dazu gehören nicht nur die Krankenkassenprämien, sondern auch wesentliche Ausgaben wie Miete und Energiekosten. Letztere allein machen rund 25 Prozent der Konsumausgaben aus, und die Preise für diese Komponenten haben sich in den letzten Jahren um elf Prozent erhöht – ein deutlicher Anstieg. 

Gibt es eine Lösung für die Betroffenen?

Das ist nicht einfach. Eine Familie, die sowieso schon knapp bei Kasse ist, kann nicht mal schnell eine neue Erdsondenheizung einbauen, wenn sie eine Ölheizung hat. Und wenn die Miete steigt, gibt es auch keine einfache Lösung, da das Angebot an günstigen Wohnungen gering ist. Hinzu kommt, dass die Nahrungsmittelpreise auch recht stark gestiegen sind – seit 2021 um rund sieben Prozent. Das alles belastet die Kaufkraft. Die Betroffenen sollten in allen Bereichen optimieren, wo immer es möglich ist. Insbesondere bei den Krankenkassenprämien empfiehlt es sich, jedes Jahr die günstigste Kasse und das günstigste Modell zu wählen, auch wenn der Wechsel etwas aufwändig sein kann. Auch sollte man immer wieder prüfen, ob man zum Beispiel für Verbilligungen bei der Krankenkasse oder der Kinderbetreuung infrage kommt. 

Zur Person

Sarah Lein ist Professorin für Makroökonomie an der Universität Basel mit Forschungsinteressen in den Bereichen Geld- und Währungspolitik. Bevor sie im November 2014 an die Uni Basel kam, war sie als Senior Economist in der Schweizerischen Nationalbank tätig.

Man hört von Armutsbetroffenen und gleichzeitig steigt aber auch der Wohlstand der Gesellschaft – es gibt viele Menschen, denen höhere Preise nicht wehtun. Sollte es mehr Umverteilung geben oder hätte das insgesamt keinen Einfluss auf die Kaufkraft?

Leider fehlen derzeit noch die Daten, um festzustellen, ob und in welchem Ausmass die Armutsquote gestiegen ist. Würden armutsbetroffene Menschen zusätzliche Einkommen, etwa durch Sozialleistungen, erhalten, würde dies selbstverständlich ihre Kaufkraft erhöhen. Ob jedoch noch mehr umverteilt werden soll, ist eine politische Entscheidung. Bereits jetzt gibt es Umverteilung: Es gibt die Sozialhilfe für Menschen mit keinem oder sehr niedrigen Einkommen und die kleineren Einkommen zahlen einen geringeren Anteil ihres Einkommens als Steuern und profitieren von Prämienverbilligungen bei den Krankenkassen. 

Wie können der Staat oder die Arbeitgeber*innen auf eine sinkende Kaufkraft reagieren?

Der Staat hat nur begrenzten Einfluss auf die Löhne, jedoch massgeblichen Einfluss auf die Steuerpolitik und die Gesundheitspolitik. Er könnte in diesen Bereichen eingreifen, wenn die Kaufkraft so stark sinkt, dass bestimmte Bevölkerungsgruppen in Schwierigkeiten geraten. Es gibt ja auch bereits staatliche Massnahmen, die genau darauf abzielen, wie zum Beispiel die Verbilligung der Krankenkassenprämien. Arbeitgeber*innen können zwar die Löhne anpassen, doch sind hierbei eher die wirtschaftlichen Ergebnisse der Unternehmen und die Lage auf dem Arbeitsmarkt entscheidende Faktoren.

Wie hängen Kaufkraft und Inflation eigentlich zusammen?

Wenn wir Inflation haben, dann können wir uns von dem, was übrig bleibt, weniger leisten und die Kaufkraft sinkt. Daher ist die Inflation auch eine wichtige Komponente, die die Kaufkraft bestimmt. Das ändert sich natürlich, wenn die Löhne entsprechend mitsteigen. Dann gleicht sich der Verlust der Kaufkraft durch höhere Preise wieder aus, weil auch die Einnahmen und damit das verfügbare Einkommen steigen. Man sieht also schon, dass es ein nicht ganz einfaches Zusammenspiel der verschiedenen Komponenten ist, das die Kaufkraft bestimmt. 

Aber die Löhne steigen ja nicht automatisch an.

Das stimmt. In den letzten Jahren haben wir gesehen, dass die Löhne mit der Inflation nicht Schritt hielten. Wir hatten von 2021 bis 2023 einen Rückgang der durchschnittlichen Reallöhne. Das heisst, im Schnitt können wir uns aufgrund der Inflation von unseren Löhnen weniger leisten. Hinzu kommen die steigenden Krankenkassenprämien, die die Kaufkraft ebenso reduzieren. Ich gehe zwar davon aus, dass die Reallöhne in diesem Jahr insgesamt gestiegen sein dürften, aber nicht in einem Ausmass, das die drei Jahre der rückläufigen Reallöhne wieder ausgleichen würde. 

«In den letzten Monaten ist die Inflation sogar deutlich rückläufig gewesen.»
Sarah Lein, Makroökonomin an der Uni Basel

Wie viel Inflation ist denn überhaupt tragbar?

Es kommt natürlich immer darauf an, wie gut die Löhne mit der Inflation Schritt halten und damit die Kaufkraftverluste wieder ausgleichen. Daher ist es die Aufgabe der Schweizerischen Nationalbank, die Inflation sehr tief zu halten. Das ist kurzfristig nicht immer möglich, wie wir in den letzten beiden Jahren 2022 und 2023 gesehen haben, als die Inflation deutlich zu hoch geworden war. 

Wie ist die Situation aktuell in der Schweiz? 

Wir sind schon seit gut einem Jahr wieder im Bereich der Preisstabilität, die Inflation liegt also unter zwei Prozent. In den letzten Monaten ist die Inflation sogar deutlich rückläufig gewesen, das sind gute Zeichen für die Entwicklung der Kaufkraft in diesem Jahr.

Sie sprachen auch von den steigenden Krankenpassenprämien.

Das stimmt, es ist allerdings kein geldpolitisches Phänomen und hat nichts mit der Inflation zu tun. Es handelt sich vielmehr um ein gesundheitspolitisches Problem, das hier die Kaufkraft negativ beeinflusst. Der Hauptgrund für die steigenden Krankenkassenprämien sind nicht etwa höhere Preise für Arztbesuche, sondern der zunehmende Konsum von Gesundheitsleistungen insgesamt, also eine starke Ausweitung der Menge – auch bedingt durch die alternde Gesellschaft und eine steigende Nachfrage nach Gesundheitsdienstleistungen. 

Was kann der Staat gegen die steigenden Prämien tun?

In der Schweiz haben wir ein Gesundheitssystem von hoher Qualität. Wenn wir dieses Niveau beibehalten wollen, müssen wir uns der damit verbundenen Kosten bewusst sein. Die Politik könnte jedoch versuchen, Ineffizienzen im System zu identifizieren und abzubauen. Sollte sich in den Daten zeigen, dass die untersten Einkommensgruppen übermässig belastet werden, liesse sich dies durch eine Anpassung der Prämienverbilligungsgrenzen abfedern.

Marina Katrova, and her 6-year-old daughter Masha go about their business in their apartment in Brighton Beach, Brooklyn, Sunday, Dec.14, 2008 in New York. After her 40-year-old mother was laid off from her computer company job, I am happy she was fired! said little Masha, adding, Because she is not working and she can come home and we can play. (AP Photo/Dima Gavrysh)
Einelternhaushalte sind vergleichsweise häufig von Armut betroffen. (Bild: Dima Gavrysh / Keystone )

Wenn die Kaufkraft sinkt, gibt es immer mehr Working Poor, also Menschen, die trotz Erwerbsarbeit arm sind. Ist das ein neues Phänomen?

Der Anteil der Working Poor unter den Erwerbstätigen liegt seit Jahren bei etwa 3,5 Prozent. Aktuelle Daten fehlen jedoch, sodass unklar ist, wie stark dieser Anteil in den letzten beiden Jahren gestiegen ist. Auffällig ist aber seit langem die Situation von Einelternhaushalten: In dieser Gruppe haben etwa zehn Prozent der Erwerbstätigen ein sehr niedriges Einkommen und zählen somit zu den Working Poor. 

In unserer Region spielt das Einkaufen im Ausland eine grosse Rolle. Angesichts von Teuerung und stagnierenden Löhnen nimmt der Einkaufstourismus im angrenzenden Ausland wieder zu. Ist das ein Problem?

Wir haben kürzlich eine Studie zum Einkaufstourismus durchgeführt. Für die Konsumierenden in Grenzregionen wie Basel ist dies natürlich sehr vorteilhaft, da sie eine vergleichbare Menge an Waren für deutlich weniger Geld erwerben können. Dadurch profitiert die Kaufkraft der Verbraucher. Gleichzeitig haben jedoch die Einzelhändler in Basel mit einem Rückgang ihres Umsatzes zu kämpfen. 

Nun wird die Zollfreigrenze heruntergesetzt. Ist das schädlich für die Kaufkraft?

Ich denke, die Zollfreigrenze spielt hierbei keine so grosse Rolle. Viele Menschen aus Basel werden weiterhin in Deutschland einkaufen, selbst wenn die Freigrenzen gesenkt werden. Ab Januar 2025 liegt die Freigrenze bei 150 Franken pro Person, die komplett steuerfrei sind. Dennoch bleiben die Preise in Deutschland auch weiterhin deutlich niedriger als in der Schweiz. Daher gehe ich davon aus, dass das Einkaufsvolumen im Ausland ähnlich hoch bleiben wird.

In zwei Monaten ist Weihnachten. Merken die Geschäfte im Weihnachtsgeschäft, wenn die Kaufkraft nachlässt? 

Ich denke, dass es dieses Jahr für den Einzelhandel wieder besser läuft als letztes Jahr. 2023 sind die Reallöhne erneut gesunken und es sieht so aus, als gingen die Löhne dieses Jahr in der Tendenz wieder mehr nach oben. Daher gehe ich davon aus, dass das Weihnachtsgeschäft in diesem Jahr etwas besser läuft als 2023. 

«Ich gehe davon aus, dass die Kaufkraft wieder etwas steigen wird.»
Sarah Lein, Makroökonomin an der Uni Basel

Verlagert sich die Kaufkraft zunehmend ins Internet? Billig-Webseiten wie temu haben grossen Zulauf. Liegt das auch an der sinkenden Kaufkraft oder eher an einem Trend, alles möglichst billig kaufen zu wollen?

Ich denke, es ist ein bisschen beides. Der Trend, im Internet einzukaufen, bestünde auch, wenn wir keinen Rückgang der Kaufkraft hätten. Sicherlich versuchen Menschen, die am Budget-Limit sind, auf günstigere Anbieter auszuweichen. Das ist verständlich und ökonomisch rational. 

Gibt es auch jemanden, der davon profitiert, wenn die Kaufkraft sinkt?

Gute Frage. Ich gehe davon aus, dass Discounter wie Aldi vermehrt Zulauf erhalten werden, da die Menschen nach günstigeren Alternativen für ihre täglichen Einkäufe suchen.

Haben Sie Prognosen für die Zukunft?

Wenn nichts Unerwartetes passiert, wie beispielsweise der Krieg in der Ukraine, bleibt die Inflation voraussichtlich relativ niedrig. Die Löhne dürften zumindest teilweise den Verlust der letzten Jahre ausgleichen, sodass ich davon ausgehe, dass die Kaufkraft wieder etwas steigen wird. Leider werden wir jedoch nicht sofort zu dem Niveau vor Covid zurückkehren können. Die Krisen der letzten Jahre haben uns ärmer gemacht.

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Nach dem Studium, freier Mitarbeit bei der Berliner Morgenpost und einem Radio-Volontariat hat es Valerie 2002 nach Basel gezogen. Sie schreibt seit fast 20 Jahren für das Jüdische Wochenmagazins tachles und hat zwischenzeitlich einen Abstecher in die Kommunikation zur Gemeinde Bottmingen und terre des hommes schweiz gemacht. Aus Liebe zum Journalismus ist sie voll in die Branche zurückgekehrt und seit September 2023 Senior-Redaktorin bei Bajour. Im Basel Briefing sorgt sie mit ihrem «Buchclübli mit Vali» dafür, dass der Community (und ihr selbst) der Lesestoff nicht ausgeht.

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