Baslerin Mariann Bühler überzeugt mit Debütroman

Wie möchten wir in dieser Welt sein, und welche Veränderungen sind im Alltag möglich? Diese Fragen stellt der Debütroman «Verschiebung im Gestein» von Mariann Bühler. Ein ruhiges Buch mit präziser Sprache, urteilen unsere Kolleg*innen von ViceVersa.

buehler literatur Buchcover verschiebung
(Bild: Mariann Bühler, Verschiebung im Gestein, Roman, 208 Seiten, Zürich, Atlantis Literatur, 2024)

Worauf kommt es an im Leben?

Wie möchte ich sein in dieser Welt?

Wie werden Veränderungen, kleine wie grosse, möglich im eigenen Alltag?

Diese Fragen stellt «Verschiebung im Gestein», ohne darauf eine Pauschalantwort geben zu wollen.

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Die eigentliche Hauptfigur in Mariann Bühlers Debütroman ist das Tal, in dem das Erzählte spielt. Die Topographie, das Gestein, die Berge ringsum, die Natur. Elisabeth, Alois und eine namenlose Du-Erzählerin halten sich in diesem Tal auf, ohne direkt miteinander in Kontakt zu kommen: Elisabeth hat nach dem Tod ihres Mannes die Dorfbäckerei übernommen, Alois den Bauernhof seiner Eltern.

Die Du-Erzählerin besucht ihre Grossmutter im Tal und das Ferienhaus aus Kindertagen. Alle sind auf ihre Art verloren in ihrem Leben und hadern mit sich selbst. So findet sich Alois allein auf dem Hof wieder, nachdem seine letzte Beziehung in die Brüche ging. Etwas fehlt, das wird ihm mehr und mehr bewusst:

Seine Gedanken zogen sich in die Länge, knäuelten sich ineinander, wie die Regenwürmer in einem Kessel, die er als Kind an Regentagen von der Straße gesammelt hatte, um sie im Gras wieder freizulassen. Er wusste nicht, wohin er die langen Gedanken tragen sollte, um sie freizulassen.
Aus: «Verschiebung im Gestein» von Mariann Bühler, Atlantis Literatur 2024.

Es sind solche Sätze, die Bühlers gekonnten Umgang mit Sprache verdeutlichen.

Ihr bildgewaltiges Erzählen scheut keine Auslassungen. Wer dieses Buch liest, wird dazu eingeladen, die Lücken mit eigenen Erlebnissen aufzuschütten, wie mit Kies, das zwischen grössere Gesteinsbrocken rieselt.

Natürlich weckt das Setting des Romans auch eine den Grossteil der Schweizer Bevölkerung ansprechende Nostalgie: Wo genau man als Kind die Sommerferien verbrachte, ist dabei sekundär. Es sind Geräusche und Gerüche ebenso wie allgemein bekannte Erlebnisse und Dinge — das Sandwich aus der Dorfbäckerei, die Brennnesseln, das Süssgetränk nach der Wanderung — die hier anklingen.

Doch auch in dieser vermeintlich statischen, beruhigend immergleichen Welt gibt es Verschiebungen. Hinter den Kulissen sitzen die Menschen an Stamm- und Esstischen und fragen sich, was sie mit ihrem Leben anstellen sollen. So auch Elisabeth, die nach dem Tod ihres Mannes zunächst einmal ein Schild an die Eingangstür seiner Bäckerei hängt: Bis auf Weiteres geschlossen. Die Ehe mit Jakob schien alles andere als einfach, trotzdem verliert Elisabeth den Boden unter den Füßen, als er stirbt. Während die Dorfgemeinschaft erwartet, dass sie eine externe Nachfolge für die Bäckerei findet, beginnt die Witwe damit, selbst Brot zu backen. Sie macht sich die täglichen Handgriffe und Arbeitsschritte zu eigen, lernt, das Feuer zu lesen und den Teig zu bearbeiten:

Sie hat gehört, dass es Leute gibt, denen Teig zuwider ist, weil er zu sehr nach Körper aussieht. Mit dem Handballen formt sie die Laibe — sie heißen ja auch so — zu gleichmäßigen Kugeln, legt sie auf die Bretter, stapelt die Bretter in die Regale. Sie bemehlt die Brote, als würde sie prächtige runde Hintern pudern. Oder Brüste.
Aus: «Verschiebung im Gestein» von Mariann Bühler, Atlantis Literatur 2024.

Auch die Du-Erzählerin, die ohne Namen bleibt, hat die Bäckerei als festen Bestandteil des Dorfes in Erinnerung. Sie kauft dort einen Lebkuchen für ihre Grossmutter, der Grossvater ist da schon nur noch ein Schatten im Sessel. Die Du-Erzählerin lebt eigentlich in der Stadt, hat dort ein Leben, eine Arbeit, einen Partner. Nach dem Tod des Grossvaters zieht sie sich alleine zurück in das Ferienhaus der Grosseltern, vielleicht zum letzten Mal, bevor das verlassene Haus verkauft wird. Mit Dosenravioli und altem Wein sitzt sie auf dem Balkon, hört das Gepolter der Siebenschläfer und blickt in die vertraute Landschaft des Tals.

Manchmal fragst du dich, wie das weitergehen soll, ob eine weitere Annäherung, eine untrennbare Wurzelwerkwerdung möglich ist. Ein Kind, ein Haus, das hat die Welt im Angebot, um zwei relativ endgültig zusammenzuschweißen. Du buchstabierst seit Jahren an deinen Wünschen herum.
Aus: «Verschiebung im Gestein» von Mariann Bühler, Atlantis Literatur 2024.

Das ist ein Kernthema dieses Buches: Die eigenen Wünsche, die lange beiseite geschoben worden sind oder überhaupt erst ab einem gewissen Zeitpunkt im Leben denkbar werden.

Mariann Bühler stellt diese Wendepunkte und die daraus resultierenden Entscheidungen nachvollziehbar, aber ohne erhobenen Zeigefinger dar. Auch ohne diesen wird beim Lesen deutlich, welche Strukturen unser Leben bestimmen und wie ungerecht und einengend sie sein können: Gesellschaftliche und familiäre Erwartungen, die Ungleichbehandlung der Geschlechter, Erfahrungen der Gewalt und Ausgrenzung machen es den Figuren schwer, einen geradlinigen Weg zu finden.

Hier greift auch die Analogie des Gesteins: Schicht um Schicht türmt sich die Zeit auf, eine Topographie des eigenen Lebens, mit Erlebnissen, die als Sedimente in Erinnerung bleiben. Der Mensch ist damit kein einheitliches Ganzes, sondern ein Gefüge, das sich durch Druck und Temperatur verändern kann — bis hin zu Brüchen und Felsstürzen.

Die Verschiebung ist nur in Messungen und Berechnungen, in deren Übersetzung in Bilder und Worte sichtbar. Sie zu erkennen, braucht einen Blick für das sehr Grosse und das sehr Kleine, für das Nahe und das Ferne, für das, was da ist, und das, was fehlt. Für das Hier und Dort, das Plätze tauscht. Dafür, was das eine mit dem anderen zu tun hat.
Aus: «Verschiebung im Gestein» von Mariann Bühler, Atlantis Literatur 2024.

«Verschiebung im Gestein» ist ein ruhiges Buch, eine Geschichte, die sich offenbart wie die Landschaft und die getragen wird von der präzisen, bildreichen Sprache. Wer sich auf diese literarische Wanderung einlässt, lernt ganz nebenbei auch etwas über sich selbst.

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