«Ist ziviler Ungehorsam legitim?»

Wie weit darf Widerstand gehen? Das fragt Klimaaktivistin Pauline Lutz die erfahrene Protestlerin Anita Fetz im Generationen-Ping-Pong.

Rosa Parks
Die US-Bürgerrechtlerin Rosa Parks setzte sich zur Wehr: Hier bei ihrer Festnahme nach dem Busboykott von Montgomery, 1956. (Bild: Associated Press via Wikimedia Commons)

Liebe Anita

meine Gedanken kreisen momentan ganz schön herum. Wie zerrissen das Verhältnis zwischen den einzelnen Menschen und der Gesellschaft sein kann, wird für mich gerade sichtbar. Wir reden viel über Solidarität, Eigenverantwortung und Freiheit. Und ich frage mich, wie weit kann und soll man für die eigenen Überzeugungen gehen? 

Im Sommer 2019 haben 100 Aktivist*innen die UBS-Filiale am Aeschenplatz mit Kohle und Ästen verbarrikadiert, um gegen die Investitionen der Bank in den Abbau fossiler Energien zu protestieren. Nun wurden die ersten fünf Klimaaktivist*innen freigesprochen. Mehrmals betonte die Richterin, dass Klimaschutz kein Verbrechen sei. War die Aktion gerechtfertigt? Darf man also zivilen Ungehorsam ausüben?

Die Geschichte des zivilen Ungehorsams ist lang. Und ich bin jung. Für mich ist Protest ein legitimes, ja sogar notwendiges Mittel, um Aufmerksamkeit zu erzeugen, um zu sagen: So geht das für mich nicht. Ob man sich dafür auch über das Gesetz hinwegsetzen soll, bleibt meistens eine theoretische Frage. Doch durch die neu erstarkte soziale Bewegungen wie die Klimajugend überlege ich: Wie weit würde ich gehen? 

«Ein Gesetz unmoralisch finden und das zum Ausdruck bringen, indem man es bricht, kann manchmal enorm wichtig sein.»

Oft wird unter zivilem Ungehorsam eine Form des Protests verstanden, die einen bewussten und öffentlichen Verstoss gegen ein Recht beinhaltet. Doch schon der Fall der freigesprochenen Basler Klimaaktivist*innen zeigt, dass es nicht einfach ist – schliesslich wurden sie ja freigesprochen.

Ein Gesetz unmoralisch finden und das zum Ausdruck bringen, indem man es bricht, kann manchmal enorm wichtig sein. Die afroamerikanische Bürgerrechtlerin Rosa Parks ist ein Beispiel dafür. Indem sie sich 1955 geweigert hatte, im Bus einem Weissen Platz zu machen, hat sie den weltbekannten Busboykott von Montgomery ausgelöst und einen entscheidenden Beitrag im Kampf gegen Rassismus in den USA geleistet . Sie hat bewusst und moralisch begründet ein geltendes Recht gebrochen.

Viele Bewegungen für soziale Gerechtigkeit gründeten sich auf den Grundsatz des zivilen Ungehorsams: Die Freiheitskämpfe von Gandhi, Martin Luther King, schon in der Antike gab es zivilen Ungehorsam.

Pauline Lutz
Ach, gebt mir doch einfach den Impfstoff

Pauline Lutz und Anita Fetz fragten sich gegenseitig: Wie geht es dir in der Krise. Beide hoffen auf den Impfstoff. Und Pauline trifft eine wichtige Entscheidung. Hier liest du ihren Brief.

Aber gibt es eine Pflicht zum Widerstand – oder ist ziviler Ungehorsam Selbstanmassung? Kommt es zu einer moralischen Erpressung der Mehrheit durch eine Minderheit?

Ziviler Ungehorsam unterbricht und regt zum Nachdenken an und ist somit ein Bestandteil einer lebendigen Demokratie. Wenn «geordneter Protest» nicht mehr funktioniert, wird zum zivilen Ungehorsam gegriffen, weil dieser provoziert und so möglicherweise stärkere Auswirkungen hat. Viele Bewegungen sind durch diese Form des Widerstands dazu gekommen, breit abgestützte Forderungen schneller voranzutreiben.

Heute wird der zivile Ungehorsam häufig als Mittel des Protests von Umweltschutzbewegungen benutzt: Wenn der Weg der Regierung so wenig weit geht, dass selbst riesige Demonstrationen nichts bringen, wird zum Beispiel zu Verkehrsblockaden gegriffen. Das finde ich grundsätzlich gut.

«Für mich gibt es also Momente, in denen ziviler Ungehorsam gerechtfertigt ist – aber auch seltene Formen, die ich als verantwortungslos empfinde»

Doch gerade in dieser Zeit frage ich mich manchmal, was ich nun von den Anti-Coronamassnahmen-Protesten halten soll. Schliesslich kann auch die kollektive Verweigerung des Masketragens als ziviler Ungehorsam gesehen werden. Coronaleugner*innen gebrauchen den Begriff bewusst, um ihre Haltung zu legitimieren. Aber ist er das wirklich? Ein ziviler Ungehorsam, der die bürgerlichen Freiheitsrechte verteidigt? 

Ich denke, für mich ist es immer ein Abwägen, welches Gesetz nun gebrochen wird. 

Da kommt für mich einerseits der Punkt der Gewaltlosigkeit ins Spiel: Wenn Rosa Parks nicht von ihrem Sitzplatz aufsteht oder friedlich eine Bankfiliale blockiert wird, wird keinem Lebewesen etwas angetan. Doch durch die Verweigerung von Social Distancing kommt es zu einer Gefährdung des Rechts auf Gesundheit (das übrigens ein Menschenrecht ist).

Unabhängiger Journalismus?
Bajour

Andererseits geht es mir um die Wissenschaftlichkeit: Der Klimawandel ist wissenschaftlich belegt. Das Leugnen der Pandemie jedoch hat wissenschaftlich nicht Hand und Fuss.

Für mich gibt es also Momente, in denen ziviler Ungehorsam gerechtfertigt ist und stattfinden muss, um die Zivilgesellschaft aufzurütteln – aber auch seltene Formen, die ich als verantwortungslos empfinde. Das Thema ist echt vielschichtig. 

Anita, wie siehst du das, als erfahrene Protestlerin?

Ganz herzlich,

Pauline

__________

Pauline Lutz (2002) engagiert sich bei der Basler Klimajugend und hat bis im Dezember internationale Beziehungen in Genf studiert. Die Kleinunternehmerin und ehemalige Ständerätin Anita Fetz (1957) politisierte bei der SP.

Basel Briefing

Das wichtigste für den Tag
Jetzt Abonnieren
Jetzt Member Werden

Das könnte dich auch interessieren

Conradin Cramer, President of the Government of Basel-Stadt, is made up for an interview after the press conference on the staging of the Eurovision Song Contest (ESC) 2025, in Basel, on Friday, August 30, 2024. The ESC 2025 will be held in Basel. This was announced today by the SRG. (KEYSTONE/Georgios Kefalas)

David Rutschmann am 24. September 2024

Grüssaugust, Mieterschreck, Klimaschnägg?

Conradin Cramer ist der erste bürgerliche Regierungspräsident. Er inszeniert sich als entscheidungsfähig und hat mit dem ESC nun die beste Möglichkeit, sich und Basel gut aussehen zu lassen. In der Verwaltung eines Dauerkrisendepartements scheint derweil Ruhe eingekehrt zu sein.

Weiterlesen
Anne Hänggi und Patrick Schmutz

Jelena Schnüriger am 11. September 2024

Mehr Grün statt grau

Mit «Green is the New Grey» wollen Anne Hänggi und Patrick Schmutz eine grünere Stadt schaffen und Hauseigentümer*innen in Basel dazu auffordern, ihre Vorgärten und Fassaden zu begrünen.

Weiterlesen
Rosmarie Wydler-Waelti, co-presidente des Ainees pour le climat et Anne Mahrer, co-presidente des Ainees pour le climat et l'equipe des avocats dont Raphael Mahaim, attendent la Presidente de la Cour Siofra O'Leary, lors de la publication de la decision de La Grande Chambre de la Cour europeenne des droits de l'homme suite a la requete deposee par les Ainees pour le climat Suisse (Klimaseniorinnen Schweiz) lors d'une audience publique devant La Grande Chambre de la Cour europeenne des droits de l'homme (CEDH) le mardi 9 avril 2024 a Strasbourg en France. La Cour europeenne des droits de l'homme (CEDH) a condamne ce mardi la Suisse pour violation de la Convention des droits de l'homme, donnant raison a l'association "Ainees pour le climat" qui attaquait l'inaction de la Suisse face au changement climatique. (KEYSTONE/Jean-Christophe Bott)

Valerie Wendenburg am 29. August 2024

«Uns geht es darum, die Leute weiterhin aufzurütteln»

Der Bundesrat will dem Urteil des Europäischen Gerichtshof für Menschen­rechte im Prozess der Klimasenior*innen nicht folgen. Die Klimasenior*innen sind «masslos enttäuscht» und rufen zu einer spontanen Protestkundgebung in Basel auf, wie Rita Schiavi Schäppi im Interview sagt.

Weiterlesen
Titelbild Krysiak-2

David Rutschmann am 29. Juli 2024

«Die Erbschaftssteuer macht noch keinen Klimaschutz»

Alle reden über die Erbschaftssteuer-Initiative der Juso – aber niemand darüber, dass damit der Klimaschutz finanziert werden soll. Der Basler Umweltökonom Frank Krysiak erforscht die wirtschaftlichen Auswirkungen von Klimapolitik. Er findet: Die Vermögenden müssen mehr verpflichtet werden, sich bei Klimainvestitionen einzubringen.

Weiterlesen
Porträt Pauline Plainpalais

Bei Bajour als: Community-Managerin – ich schreibe über die Geschichten, die in der Gärngschee-Gruppe passieren. Und als wahre Homeoffice-Redaktorin, hauptsächlich in Genf stationiert.

Hier weil: Schreiben 😍

Davor: Corona-Matur am Leo und ein Semester Internationale Beziehungen in Genf

Kann: Mich in seltsamen WGs einrichten & kalt duschen

Kann nicht: Ohne meine Friends

Liebt an Basel: Rhein. Entspanntheit. Die Menschen

Vermisst in Basel: das Chaos!

Interessensbindung: Ich war aktiv in der Basler Klimabewegung, habe damit aber aufgehört (alles für den Journalismus)

Kommentare