Die Abgehängten an Bord holen
Auch die US-Wahlen zeigen: Die progressive Linke findet kein Mittel mehr, die zu erreichen, die sich wirtschaftlich zunehmend abgehängt und moralisch unterlegen fühlen: Männer. Ein Kommentar von Chefredaktorin Ina Bullwinkel.
Er ist wieder da und die Menschen, die Kamala Harris Erfolg gewünscht oder ihr die Stimme gegeben haben, sind geschockt. Wie ist Donald Trump dieses fulminante Comeback gelungen? Dass es ein knappes Rennen würde, haben die Umfragen vorher durchaus gezeigt. Wahrhaben, dass Trump wirklich gewinnen könnte, wollte in den liberalen Medien und linken Blasen kaum jemand. Der USA-Korrespondent der Woz vermutete noch in der Wahlnacht, Kamala Harris werde das Rennen machen. Es lag zumindest im Rahmen der Möglichkeiten bzw. des Wünschbaren.
Für die meisten liberal und demokratisch denkenden Bürger*innen nagt es am gesunden Menschenverstand, wenn ein verurteilter Straftäter, der die Demokratie mit Füssen tritt, Frauen belästigt, Fake News verbreitet und die Pressefreiheit für lästig hält, so viele Menschen erreicht. Der sexistische alte weisse Mann hat deutlich gewonnen. Nicht trotz seiner Eigenschaften, sondern dank ihnen.
Das kann empören, darf aber nicht überraschen. Autokrat*innen sind auf dem Vormarsch. Einfache Wahrheiten verfangen. Viele Menschen, vor allem auch junge Männer, fühlen sich wirtschaftlich abgehängt und moralisch in der Defensive. Sie fühlen sich politisch nicht angesprochen von progressiven Frauen, die ihnen intellektuell und moralisch überlegen sind, sondern bedroht. Das zeigt nicht nur der US-Wahltag deutlich: Während junge Frauen eher links wählen, driften junge Männer weiter nach rechts.
Machos dürfen immer noch alles sagen, was sie wollen, aber sie werden dafür unter Umständen zurechtgewiesen oder gesellschaftlich isoliert. Wer damit nicht zurecht kommt, sehnt sich zurück an die vermeintlich «gute, alte Zeit».
Abgehängte wählen rechts. Das können wir in Ostdeutschland beobachten, in Italien, in Frankreich, bei der Europawahl. Das war bereits 2016 bei der Brexit-Abstimmung zu erkennen – wenige Monate bevor Trump zum ersten Mal Präsident wurde. Der Frust und die Enttäuschung, sich immer weniger leisten zu können, wenig zu verdienen und keine bezahlbare Wohnung im schönen Teil der Stadt zu finden, nicht mithalten zu können mit einem konsumorientierten, opulenten Lebensstil, der auf Instagram und Co. von Influencer*innen propagiert wird – das alles nährt die Unzufriedenheit und verletzt den Stolz.
Männer haben an Macht eingebüsst
Männer sind nicht mehr automatisch das Oberhaupt einer Familie oder die Brötchenverdiener. Sie entscheiden auch nicht mehr darüber, ob Frauen ein Konto eröffnen oder arbeiten gehen dürfen. In den vergangenen Jahrzehnten haben Männer an Macht und Selbstverständnis eingebüsst – zu Recht. Machos dürfen immer noch alles sagen, was sie wollen, aber sie werden dafür unter Umständen zurechtgewiesen oder gesellschaftlich isoliert. Wer damit nicht zurecht kommt, sehnt sich zurück an die vermeintlich «gute, alte Zeit», in der er unbehelligt Frauen, Homosexuelle, Ausländer*innen belästigen und unterdrücken konnte.
Menschen, die wenig Hoffnung und nur wenig zu verlieren haben, weil sie sich bereits als grosse Verlierer*innen fühlen, sind empfänglicher für einfache Botschaften, die eine*n Schuldige*n für die eigene Misere präsentieren. Bei Rechtspopulist*innen sind das Ausländer*innen, «Woke» und «die Grünen».
Die Linke kann nicht viel mit jenen anfangen kann, die weniger progressiv sind, konservative Werte vertreten und in anderen Realitäten leben als die akademisch ausgebildeten, urbanen Zentrumsbewohner*innen, die heute ihre Stammklientel ausmachen.
Und die Linke hat keinen Weg gefunden, gute Antworten auf die Vorwürfe und Probleme zu finden. Ihr fehlt inzwischen schlicht der Draht zu bestimmten Schichten, zu Andersdenkenden, zu Abgehängten oder zu denen mit den grössten Abstiegsängsten. Weil sie nicht viel mit jenen anfangen kann, die weniger progressiv sind, konservative Werte vertreten und in anderen Realitäten leben als die akademisch ausgebildeten, urbanen Zentrumsbewohner*innen, die heute ihre Stammklientel ausmachen. Diese Diskrepanz muss man anerkennen. Die Kaufkraft sinkt. Ein Hauskauf ist heute auch bei zwei Durchschnittsgehältern nicht mehr möglich. Bei unseren Grosseltern langte noch eins. Das wäre das eigentliche Thema der US-Demokrat*innen gewesen. It’s the economy, stupid.
Es geht um das eigene Stück vom Kuchen
«Trump will fix it» war einer der Maga-Slogans. Das ist alles, was die Leute wollen: Jemanden, der die Dinge wieder in Ordnung bringt. Was auch immer das heissen mag. Kamala Harris wurde das von der Mehrheit der Wählenden nicht zugetraut. Unter Joe Biden ist die Inflation massiv angestiegen – unter anderem wegen des Angriffskriegs auf die Ukraine. Das haben die Menschen direkt im Portemonnaie gespürt und die Zweifel, dass die Democrats das auf die Reihe bekommen, konnte Harris nicht abschütteln.
Erst kommt das Fressen und dann die Moral. Und moralisch hat man – zumindest als sich bedroht fühlender Mann – scheinbar eh wenig zu melden. Da kann man ein paar sexistische Sprüche, Gewaltandrohungen und eine Anstiftung zum Landfriedensbruch schon mal runterschlucken, wenn es um das eigene Stück vom Kuchen geht. Oder man findet sie sogar ganz gut. Endlich sagt’s mal einer.
Halten wir unsere demokratischen Errungenschaften der vergangenen Jahrzehnte noch höher und hegen und pflegen sie.
Dass demokratische Grundpfeiler schneller bröckeln können als gedacht, zeigt sich in den USA, wenn rückwärtsgewandte, antiliberale Politik plötzlich wieder aktuell wird und vor langer Zeit erkämpfte Rechte infrage gestellt werden; wenn ein Schwangerschaftsabbruch in vielen Staaten unmöglich geworden ist; wenn Bürgerrechte eingeschränkt werden; wenn Journalist*innen gedroht wird und ländliche Regionen längst zu Zeitungswüsten geworden sind und lokale Politik und Wirtschaft ohne vierte Gewalt schalten und walten können; wenn ein gewählter Präsident ankündigt, Gerichte und Staatsanwält*innen entlang der eigenen Ideologie neu zu besetzen; wenn beide Kammern von der Partei des Präsidenten dominiert werden und die Gewaltenteilung nur noch politische Theorie ist.
Also, halten wir unsere demokratischen Errungenschaften der vergangenen Jahrzehnte noch höher und hegen und pflegen sie. Dazu gehört es auch, die eigene Bubble auf ihre Offenheit und Vorurteile zu überprüfen und ehrlich zu sagen, ob man die Abgehängten bewusst abhängt.