Alle schauen zu, niemand sieht hin

Im klassischen Ballett läuft einiges gehörig falsch. Das Publikum ist Teil des Problems. Ein Kommentar.

Ballett
(Bild: Kazuo ota / Unsplash)

Viele der ehemaligen Schüler*innen, mit denen wir für die Recherche zur Ballettschule Theater Basel (BTB) gesprochen haben, sagen, sie hätten nach ihren Erfahrungen an der BTB nie wieder Fuss in eine Ballettaufführung gesetzt. Alles, was auf der Bühne präsentiert werde, die ganze Schönheit, Magie und Perfektion, komme mit einem Preis. «Es kann noch so eine tolle Vorstellung sein», sagte mir eine Protagonistin, «ich weiss, was dahintersteckt. Dieses System kann ich nicht mehr unterstützen.»

Sie verglich Ballerinas mit einem Tanzbären, der mit der Kette am Fuss in die Arena gestellt wird. Die Direktorin der Ballettschule wies die Missbrauchsvorwürfe der 33 ehemaligen Schüler*innen von sich. Mittlerweile wurde sie freigestellt, wie das SRF Regionaljournal Basel berichtet. Der Vorstand hat eine unabhängige Untersuchung angekündigt.

Ballet
«Man brach uns, und alle schauten zu»

Schülerinnen der Ballettschule Theater Basel berichten von jahrelangem Missbrauch. Die Behörden unternahmen wenig. Wie kann das sein? Lies hier die gemeinsame Recherche mit der «NZZ am Sonntag».

Zum Artikel

Tanz ist etwas Wunderbares. Menschen dabei zuzusehen, wie sie nur mit ihren Körpern Kunst erschaffen: Atemberaubend. Doch wo endet Kunst und wo beginnt Missbrauch? Was und wen sind wir bereit, für unseren Kunstgenuss zu opfern? 

Die erhobenen Vorwürfe sind kein Basler Problem. Auch in Zürich und Bern wurden dieses Jahr ähnliche Fälle aufgedeckt. Entsprechend gross ist die Entrüstung. Zum Beispiel in Mails, die uns Leser*innen geschickt haben. Darin empören sie sich, wie man das Publikum «an der Nase herumgeführt» habe. Diese Zauberwelt aus Tüll und Tütüs – alles nur grausames, mit Steuergeldern mitfinanziertes Theater. Der Unmut ist nachvollziehbar, aber geht nicht weit genug. Denn er folgt derselben Logik wie die Erklärungsversuche jener Verantwortlichen, mit denen wir geredet haben.

Lieber dem Kind seinen Traum nicht zerstören, sagen die Eltern. Besser drinbleiben und eine Schulter zum Weinen bieten, als draussen sein und gar nichts unternehmen können, sagen ehemalige Lehrpersonen. Strukturen schaffen, sagt der Branchenverband. Abmahnen, sagen die Behörden. Niemand sagt: Ja, wir haben weggeschaut. Vielleicht auch Sie, liebe Leser*innen.

Denn wer (wie es ein Publikum zu tun pflegt) wirklich hinschaut, der sieht es. Magere Körper, erzwungene Lächeln. Jede*r kennt die Bilder von blutigen Zehen und blau angelaufenen Füssen. Spitzentanz, so die gängige Meinung, sei hart, aber gehöre zum klassischen Ballett nunmal dazu. Keine Perfektion ohne Leidensdruck. Eine Gleichung, die nicht nur der innere Kreis Tag für Tag fraglos in Kauf nimmt, sondern auch das Publikum mit seinen Theaterbesuchen unterstützt. Sie alle tragen dieses kranke Gerüst mit.

Herz Brief
Mitdiskutieren

Was ist deine Meinung? Ist es Zeit, dass man Spitzensport wie Ballett verbietet? Sollten wir als Publikum solche Aufführungen nicht mehr besuchen? Diskutiere unten in den Kommentaren mit oder schreibe uns eine Mail an [email protected].

✉️

Ein System lässt sich nur ändern, wenn alle ihre Rolle darin anerkennen. Es reicht nicht, mit dem Finger auf andere zu zeigen, denn gäbe es klar umrissene Schuldtragende, wäre es kein System. Alle, die in irgendeiner Form klassisches Ballett konsumieren, tragen ihren Teil dazu bei, dass es in der Form bestehen bleibt. Und alle Konsument*innen können sich dafür einsetzen, dass sich etwas ändert. 

In diesem Fall bedeutet das: Hören Sie auf, sich den Tanzbären anzuschauen. Erkennen Sie an, dass jene scheinbare Perfektion, die auch Sie als Zuschauer*innen verlangen, mit teils tragischen Schicksalen verbunden ist. Heben Sie klassisches Ballett vom Sockel der Hochkultur. Besuchen Sie keine Vorstellungen mehr, zumindest nicht, bis in der Schweiz klare Strukturen zum Schutz von jungen Balletttänzer*innen geschaffen wurden. Und sei sie noch so wunderbar: Die Kunst darf nicht vor dem Menschen kommen.

Bajour Herz
Menschen im Mittelpunkt

Jetzt Bajour-Member werden und unabhängigen Journalismus unterstützen.

Basel Briefing

Das wichtigste für den Tag
Jetzt Abonnieren
Jetzt Member Werden

Das könnte dich auch interessieren

Titelbild Skip

Ernst Field am 26. September 2024

«Ich arbeite, damit ich meinen Traum leben kann»

Der Basler Musiker Skip redet mit Ernst Field über die Balance zwischen Musik und seinem Beruf als Lehrer, die Herausforderungen der Gratiskultur in Basel und beantwortet Fragen seiner Fans.

Weiterlesen
Conradin Cramer, President of the Government of Basel-Stadt, is made up for an interview after the press conference on the staging of the Eurovision Song Contest (ESC) 2025, in Basel, on Friday, August 30, 2024. The ESC 2025 will be held in Basel. This was announced today by the SRG. (KEYSTONE/Georgios Kefalas)

David Rutschmann am 24. September 2024

Grüssaugust, Mieterschreck, Klimaschnägg?

Conradin Cramer ist der erste bürgerliche Regierungspräsident. Er inszeniert sich als entscheidungsfähig und hat mit dem ESC nun die beste Möglichkeit, sich und Basel gut aussehen zu lassen. In der Verwaltung eines Dauerkrisendepartements scheint derweil Ruhe eingekehrt zu sein.

Weiterlesen
NAUTIKA Tanz-GIF BajourBeat

Jan Soder am 23. September 2024

NAUTIKA – «Marseille»

Das neue Basler Indie-Pop-Trio tischt zum Sommerende eine einfache, aber eingängige «Ode an den Süden» auf, die im Winter entstanden ist, und verspricht noch mehr davon.

Weiterlesen
Mann ist Mann, Schauspiel, von Bertolt Brecht, Musik von Paul Dessau, Theater Basel, September 2024, Foto Lucia Hunziker



    Inszenierung – Jörg Pohl
    Musikalische Leitung – Evelinn Trouble
    Bühne und Kostüme – Lena Schön,
    Helen Stein
    Mitarbeit Bühnenbild – Jan Vahl
    Lichtdesign – Roland Heid
    Dramaturgie – Kris Merken

    Elmira Bahrami
    Jan Bluthardt
    Barbara Colceriu
    Fabian Dämmich
    Sven Schelker
    Julian Anatol Schneider
    Hanh Mai Thi Tran
    Live-Musik – Evelinn Trouble

Felix Schneider am 21. September 2024

Mann o Mann

«Mann ist Mann» heisst das Stück von Bertolt Brecht, das in Basel gezeigt wird. Es handelt davon, wie man aus einem Menschen einen Soldaten macht. Das soll ja heute wieder öfter vorkommen. Eine ernste Angelegenheit? Ja, aber lustig!

Weiterlesen
Naomi

<a href="https://www.trust-j.org/30009" target="_blank"><img src="https://www.trust-j.org/fileadmin/templates/layout/img/trustj-logo.png" width="150" /></a>

Bei Bajour als: Ideenschleuder, Gaspedal, Podcasterin

Hier weil: keine Lust mehr auf Verlagsbunker

Davor: Kulturredakteurin bei Tageswoche, bz, SRF Kultur

Kann: Zuhören

Kann nicht: Witwen schütteln

Liebt an Basel: Die Gipfeli im Damatti, der Schnaps im goldenen Fass, die Seerosen im Beyeler.

Vermisst in Basel: Einen anständigen Glacéladen. Nein, auch das Acero reicht meinem verwöhnten Berner Gaumen nicht. (Gelateria, zu Hilf!)

Interessensbindungen: Reporterforum (Vereinsmitglied), Medienfrauen Schweiz, Podcastlab Schweiz (Gründermitglied)

Kommentare