Basel braucht den Bettelboss

Wir belügen uns selbst. Das Märchen von der organisierten Bettelbande kommt uns wie gerufen. Es erlaubt uns, zu verdrängen, worum es wirklich geht: die Armut – die wir unterstützen.

Du, die nähen billiger als Bangladesch. Aber wehe sie betteln.
Du, die nähen billiger als Bangladesch.

Betteln ist Business. Bajour bettelt seit Tag 1 seiner Existenz um milde Gaben und Jahresbeiträge. Mit Erfolg. 1532 freiwillig zahlende Member nach einem halben Jahr entsprechen ziemlich genau dem Businessplan. Am Bahnhof bettelt ein Werbeplakat neben dem nächsten um meine Aufmerksamkeit. Manchmal so erfolgreich, dass ich die jungen Corris-Mitarbeiter*innen übersehe, die mal für den WWF, mal für Greenpeace und mal für Worldvision Spendenbeiträge erbetteln.

Betteln appelliert ans Gute im Menschen und hat viele Namen. Wenn gemeinnützige Stiftungen Geld sprechen, spricht man von Fundraising. Wenn die Zeitungsverleger*innen von «BaZ» und «bz» derzeit in Bern um staatliche Hilfe betteln, spricht man von Lobbyismus. Die Kirchen müssen in Basel nicht mehr  betteln. 2019 beschloss die Stimmbevölkerung, dass der Kanton die Kirchensteuern automatisch abzieht.

Die letzte gutmütige Baslerin ist hässig

Von bandenmässig organisiertem Betteln ist erst die Rede, wenn eine Romasippe sich augerechnet Basel ausgesucht hat, um ihr Geschäft zu betreiben. Alle betteln auf einem Haufen. Kaum hat eine Passantin etwas gegeben, kommt die nächste Bettlerin. Aufgereiht wie an einer Perlenkette von Barfüsser- bis Claraplatz, machen die Roma die Flaniermeilen zum Spiessrutenlauf. Unorganisierter und vor allem lästiger könnte man den Basler Markt allerdings gar nicht bearbeiten. 

«Wer auch immer diese Bettelei angeblich bandenmässig organisiert, hat von Marketing, Marktbearbeitung und Imagepflege keine Ahnung.»

Wer auch immer diese Bettelei angeblich bandenmässig – also als Zusammenschluss zum Zweck einer gemeinsamen kriminellen Handlung – organisiert, hat von Marketing, Marktbearbeitung und Imagepflege keine Ahnung. Inzwischen ist die letzte gutmütige Baslerin hässig. Nachts im Park übernachten und die Kirche anbisseln, macht auch die barmherzige Seele sauer.

Die Aufregung ist riesig. Öffentlich plätschernde Brunnen sind 2020 zum Plantschen für die Binggis und Hündli gedacht. Sich waschende Bettler*innen sind eine Zweckentfremdung. Und überhaupt: Im reichen Basel, wo bis heute der heilige St.Martin auf dem Martinsturm des Münsters einem (vermutlich nur gespielt) ausgemergelten Bettler, barmherzig mit starkem Arm und blankem Schwert den Mantel zerteilt, macht man eines ganz sicher nicht: Seine Armut zeigen.

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«Sankt Martin, o du Gottesmann, nun höre unser Flehen an.» (Ausschnitt aus dem St.Martins-Lied) (Bild: Ad Meskens (CC-BY-SA-3.0) Illu: Bajour)

Es gibt nur ein Motiv, weshalb die Rumän*innen hier sind: Armut

Wenn zusammengepferchte südosteuropäische Arbeiter*innen in Tierfabriken zu Superspreader*innen oder jetzt zur «Bettler-Plage» (sic! Prime-News) in Basel werden, stehen hinter den Schlagzeilen immer die Armut und die schändlichen Arbeitsbedingungen, welche die Leute aus dem Land treibt.

Rumän*innen karren als Lastwagenfahrer*innen zu Dumpingpreisen die Waren auf Europas Strassen hin und her und nähen schnelle Mode für H&M – billiger als Bangladesch. Die Textilindustrie in Rumänien beschäftigt über eine halbe Million Menschen. Den Mindestlohn von 250 Euro zahlen die wenigsten und auch davon kann keine Familie leben.
Und das sind Jobs, an welche die Roma, die auch in Rumänien am Rand der Gesellschaft leben, nicht mal herankommen.

Hesch uns 40 Stutz?
Danggscheen!

Wir skandalisieren aber nicht die ausbeuterischen Umstände in einem EU-Land, sondern den Anblick der Bettler*innen auf der Einkaufsmeile. Den Basler*innen könnte es ja die Shoppinglaune verhageln, und im H&M- und Zara könnten ein paar weniger von den Kleidern Made in Romania über den Ladentisch gehen, an denen sich eine Arbeiterin arm genäht hat.

Betteln nicht mit Prostitution verwechseln

Die Armut, die wir mit unserem Konsumverhalten akzeptieren und produzieren, soll dort bleiben, wo sie ist. Und zur Not belügen wir uns halt selbst und nehmen jedes Märchen vom bandenmässigen Bettler-Boss noch so gerne an.

«Der einzige Ort, wo das Bild des hässlichen Roma-Pimps stimmt, ist das Puff.»

Der Ort, wo Romafrauen bandenmässig abkassiert werden  ist das Puff. Eine junge Rumänin könnte nie selbständig in der Schweiz anschaffen gehen, anreisen, Behördenpflichten erfüllen, Strichzonen beachten, Liegenschaften kennen, die gegen Wucherpreise Zimmer vermieten. Sie bekommt «Hilfe», bis zur marktgerechten Feinverteilungen in Salons in der gesamten Schweiz. Wie das alles geschieht, muss unsichtbar bleiben. Und hier setzt die wirklich organisierte Kriminalität ein. Das braucht neben Skrupellosigkeit und Brutalität auch Logistik, Liegenschaften und gute Beziehungen. Hier stimmt das Bild des hässlichen Roma-Pimps, der die Frauen gemeinsam mit den hiesigen Liegenschaftsbesitzer*innen nach Strich und Faden ausnützt.

Organisierte Schutzbehauptung

Nachts in Basel im Park liegen und tagsüber für alle sichtbar die Leute so unkoordinert anbetteln, bis sie hässig werden, kann jeder mit einem gültigen EU-Ausweis. In diesem schmerzhaft indiskreten Bettel-Gewerbe braucht es keine Mittelsmänner. Die einzigen, die einen König der Bettler brauchen, der alle abkassiert und in Saus und Braus lebt, sind wir. Jedes Mal, wenn uns ein* Roma-Bettler*in einen Becher vor die Nase streckt, hält sie*er uns einen Spiegel vor die Nase. Deshalb sollen die Roma verschwinden. Denn das Bild gefällt uns ganz und gar nicht.

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Bei Bajour als: Gleichgestellter alter weisser Quotenmann und Projektleiter.

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